Teil 4: „Höllensturz“ – Das Burghardt-Gymnasium Buchen in der NS-Zeit
Das Burghardt-Gymnasium feierte 2020 sein 175-jähriges Jubiläum. Die Meilensteine der Schulgeschichte werden in einer Artikelserie beleuchtet. Der vierte Artikel erzählt von der Geschichte der Schule zwischen 1933 und 1945, einer Zeit, die geprägt wurde vom Aufstieg des radikalen Nationalismus, der im massenmörderischen Programm Adolf Hitlers und der Nationalsozialisten seinen schrecklichen Gipfelpunkt fand. Das 100-jährige Jubiläum der Schule ging 1945 in den Wirren des Kriegsendes unter: Es gab nichts zu feiern.
Buchener Tragödien: Staatsterror als historische Kulisse
Ein einst anerkannter Mundartdichter und Karnevalist wird von seiner Heimatgemeinde ausgegrenzt; er nimmt sich schließlich auf dem Dachboden seiner ehemaligen Wohnung das Leben. Eine Seniorin wird in ihrem eigenen Haus von einer behördlich tolerierten Terrorbande mit Schüssen in Brust und Stirn hingerichtet. Ein Geschäftsmann wird von den staatlichen Behörden enteignet; er begibt sich auf ein Passagierschiff, das ihn mit 936 weiteren Passagieren nach Kuba bringen soll. Zwei kleine Kinder verlassen ihre Heimat und Familie für immer, um mit dem Zug in ein fremdes Land und eine ungewisse Zukunft zu fahren.
Weit weg klingen die skizzierten Geschehnisse, nach Geschichten fürs Kino vielleicht. Doch das Drama spielt in der Gemeinde Buchen, die Tragödien sind Teil der Buchener Geschichte. Der Buchener Mundartdichter Jacob Mayer wurde in den Suizid getrieben. Die Jüdin Susanna Stern wurde am 10. November 1938 nach der Reichspogromnacht in Eberstadt exekutiert. Die „Arisierung“ hatte den Buchener Geschäftsmann Adolf Oppenheimer seine berufliche Existenz gekostet; er begab sich auf die St. Louis, um nach Kuba zu flüchten – die „Irrfahrt der St. Louis“ wurde tatsächlich verfilmt. Albrecht und Hella Levi flohen im Frühling 1939 mit dem berüchtigten „Kindertransport“ nach England.
Die Buchener Bürgerschule im Zeitalter des Staatsterrors
Der geschilderte Staatsterror bildete die historische Kulisse, vor der die Buchener Bürgerschule agieren musste. Die Propaganda und Ideologie der Nationalsozialisten machten auch vor den Schulen nicht halt. Im Zuge der Gleichschaltung des deutschen Schulwesens durch das Reichserziehungsministerium erhielten alle höheren Lehranstalten die Bezeichnung „Oberschule“; die Buchener Bürgerschule firmierte im Dritten Reich als „Odenwald-Schule – Oberschule für Jungen in Aufbauform“. Die Buchener Schule hatte zwei Ausbildungszüge: In den sogenannten O-Klassen konnten Schülerinnen und Schüler nach einer vierjährigen Volks- oder Grundschulzeit nach 9 Jahren das Abitur ablegen; in den A-Klassen wurden lediglich Jungen unterrichtet, die aufbauend auf eine sechsjährige Volks- oder Grundschulzeit das Abitur nach 6 Jahren machen konnten. Die Lehrbücher der deutschen Schulen wurden in den 1930er-Jahren vereinheitlicht, Rassenlehre und Wehrertüchtigung wurden Teil des Unterrichts. Die Unterrichtszeit wurde beschränkt durch den Dienst, den Lehrer wie Schüler in den Organisationen der Partei zu verrichten hatten.
Eine wichtige Quelle, die auf die nationalsozialistische „Gleichschaltung“ der Buchener Schule hindeutet, ist ein Foto des Buchener Fotografen Karl Weiß (1876-1956), das die Buchener Abiturienten des Jahrgangs 1936 in HJ-Uniformen zeigt (s.o.)
Zeit der Bedrängnis: Schule im Zweiten Weltkrieg
Schon zu Beginn des Krieges wurde der Schulbetrieb aufgrund der Einberufung von Lehrern immer wieder empfindlich gestört; 1939 etwa wurden acht Lehrer zum Frontdienst beordert. Ab 1942 wurden auch vermehrt Schüler einberufen; sie wurden in den Kriegsjahren regelmäßig zu Ernteeinsätzen und zum Kräutersammeln eingesetzt. Den Abiturprüfungen im Frühjahr 1944 unterzogen sich nur noch zwei Schüler. In den letzten Wochen des Krieges dienten Räumlichkeiten der Schule – das Schulgebäude, das heute die Meister-Eckart-Schule beherbergt – als Lazarett. Die Volksschulabteilung des Kultusministeriums siedelte in das Hauptgebäude der Odenwaldschule in der Schüttstraße um. Die Nationalsozialisten hatten die Schule komplett umfunktioniert.
Walter Jaegle (*1926) aus Buchen hat die Schule in der NS-Zeit als Schüler besucht. Noch heute klingen ihm die Worte des Schulleiters Dr. Ackermann im Ohr: „Englisch braucht ihr nicht mehr, nach dem Krieg spricht die Welt Deutsch.“ Jaegle erinnert sich beispielsweise an die sportlichen Wettkämpfe, etwa die Reichsjugendwettkämpfe, an die zahlreichen Elsässer Lehrer nach dem Frankreichfeldzug – und auch an den Todestag von Jacob Mayer, den 11. Juni 1939. „Der Jud ist jetzt auch tot“, so habe sich ein Lehrer im Laufe des Schultages geäußert. Nach dem Ende der letzten Stunde liefen einige schockierte Schüler zum Marktplatz zu Mayers Wohnhaus. 1943 wurde Jaegle mit dem sogenannten Notabitur zur Luftwaffe eingezogen.
Einige Kinder waren in der Kriegszeit phasenweise als Gastschüler am Gymnasium, so auch Prof. Dr. Alexander Hollerbach. Seinen Aufzeichnungen ist zu entnehmen, dass die Schüler gegen Ende des Krieges von ideologischen Indoktrinationen verschont blieben. Dies deckt sich mit den Erinnerungen von Walter Jaegle. Hollerbach berichtet auch vom letzten Schultag der Odenwald-Schule, dem 26. März 1945: „Dr. Baumgart, der Direktor, kam ins Klassenzimmer und forderte uns eindringlich auf, uns so schnell wie möglich nach Hause zu begeben. In Anbetracht der Lage an der Front, die immer näher rücke, könne er es nicht mehr verantworten, dass weiterhin Unterricht stattfinde. Er hatte Tränen in den Augen.“ Bald danach rückten die Amerikaner in die Region ein.
Erinnern heißt Erneuern!
„Wer an das bittere Ende einer Sache gelangt ist, dem fällt die Binde von den Augen, er gewinnt einen klaren Geist und kommt hinter die Dinge“, so formulierte es einmal der Dichter Hugo von Hofmannsthal. Am Ende wurde den Deutschen die Binde heruntergerissen – und damals wie heute stellt sich die Frage nach dem richtigen Umgang mit der Vergangenheit.
Die Rabbinerin Prof. Dr. Eveline Goodman-Thau, Holocaust-Opfer und Buchen heute eng verbunden, erklärte Schülerinnen und Schülern des BGB vor einiger Zeit im Audienzsaal des Bezirksmuseums, dass „Erinnern“ im Jüdischen zugleich „Erneuern“ bedeute. Und darin mag wohl tatsächlich die Quintessenz des Erinnerns liegen: Es vermittelt uns nicht nur etwas von der Fassungslosigkeit, die Europa in der Nachkriegszeit angesichts des Ausmaßes der Vernichtung erfasste, es konserviert nicht nur den Nachhall des Schreckens, der Deutschland in der zweiten Jahrhunderthälfte auf einen besseren Weg brachte, sondern schärft zugleich den Blick für die Gestaltungspotenziale der Zukunft. Die Zukunft ist nicht determiniert, sie ist offen, gestaltbar, im Schlechten wie im Guten. Der Höllensturz der deutschen Geschichte führt nachdrücklich vor Augen, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit keine historischen Automatismen oder Selbstverständlichkeiten sind, sondern in der Vergangenheit schmerzhaft erkämpft wurden und in Gegenwart wie Zukunft immer wieder aufs Neue verteidigt und mit Leben gefüllt werden müssen. Das Burghardt-Gymnasium verschreibt sich diesem Ziel heute ganz bewusst. „Jeder Mensch ist wertvoll“, so lautet der erste Satz im Leitbild der Schule.